Ein Lied von der Lorelei

Definitionen der Verführung existieren in diversen Varianten. Einerseits die positiven Aspekte der Verführung; ein Mann, eine Frau, einer verführt den Anderen und es endet mit einer romantischen Liebesbeziehung. Andererseits gibt es natürlich auch die dämonische Verführung bzw. die Verführung zur Sünde. Drahtzieher dieses Aspekts ist gerade in früherer Zeit häufig die Frau gewesen. Auch heute noch ist dieses Bild fest in den Köpfen der Gesellschaft verankert, oder ist nicht etwa „immer“ die junge, blonde Sekretärin Schuld, wenn der Ehegatte fremd geht?
Doch nicht nur der Mensch ist in der Lage zu verführen, genauso kann ein Stück unberührter Natur verführerische Wirkung haben und ebenso gut eignet sich Musik.
Eben diese beiden letzten Aspekte spielen auch in Ida Gräfin von Hahn-Hahns „Lied von der Lorelei“ eine wichtige Rolle. So beginnt sie beispielsweise schon mit einer Beschreibung des herrlichen Wetters auf dem Rhein „Die Sonnenstrahlen blitzen Im Scheiden auf den Rhein“ (Z. 1-2). Hiermit ist eine erste Angabe zur äußeren Atmosphäre gegeben, die durchaus zum Gesamtbild der Verführung in diesem Gedicht beiträgt, während Regenwetter, Sturm etc. das Gegenteil bewirken würden.
Erwähnenswert ist jedoch zuvor die Besonderheit der Doppelverführung bzw. der Versuch hierfür in diesem Gedicht. Zum einen versucht die Schifferin in ihrem Kahn ihren Fahrgast durch „süße Lieder“ (Z.5) und „manch Schmeichelwort“ (Z.6) sowie einige Blicke (vgl. Z.7) zu umwerben. Der Jüngling zeigt sich zu ihrem Missvergnügen unbeeindruckt. Viel mehr scheint ihn die Lorelei zuzusagen. Damit wird Hannelore Scholz These Frauen besäßen eine unwiderstehliche Anziehungskraft, bestätigt und zugleich wiederlegt, denn die Lorelei besitzt eine solche Anziehungskraft, die Schifferin in diesem Fall jedoch nicht.
Letztere warnt den Knaben noch, doch der Einfluss der Lorelei ist zu stark. Denn wer einmal in den Bann einer Verführung geraten ist, kann diesem nur schwer wieder entfliehen, so Scholz. Des weiteren versuche das „Opfer“ jegliche Hindernisse schnellstmöglich zu überwinden, wie der junge Fahrgast. Dieser ist im Banne der Lorelei sogar dazu bereit den großen und nicht ganz ungefährlichen Rhein zu durchschwimmen (Z.29-32) . Und auch den Wiederstand der Schifferin schlägt er ab, es hat den Anschein als hätte seine Vernunft, geblendet durch die Frau aus Stein, ausgesetzt.
Hinzu kommt, dass sich das Machtverhältnis ändert. In diesem Fall hat nicht mehr der Mann die Hosen an, wie man sprichwörtlich zusagen pflegt, er beginnt jedes Risiko einzugehen nur um seine „Liebeste“ zu erreichen. (Z.29-32) Der Jüngling geht sogar soweit, dass er seinen Tod, oder zumindest schwere Rückschläge und Verletzungen einkalkuliert. (vgl. Z.47-48; 50) Dies geschieht Scholz zu folge mehr oder weniger unbewusst, da sein natürlicher Gefahreninstinkt ausgeblendet wird.
Das nächste von Hannelore Scholz aufgelistete und zutreffende Kriterium besagt, die Frau stürze den Mann ins Unglück. Denn nachdem der junge Knabe die steile Klippe erklommen hatte, stellte er ernüchtert fest, die Lorelei war nicht dort. Nun steht er mit aufgeschürfter Haut droben auf der Klippe, allein, da er die Zuneigung der Schifferin abschlug. Wodurch auch das letzte Merkmal zur Anwendung kommt; „durch Verführung entsteht Enttäuschung, Beteiligte werden (seelisch) verletzt.“ Letztendlich stehen zwei traurige, einsame Menschen nicht weit von einander entfernt, der Eine oben auf einem Felsen, ernüchtert von der Realität und die Andere unten, auf dem Rhein in ihrem Kahn, verletzt in ihrem Stolz – wurde doch ein Felsen mit einer Legender ihrerstatt vorgezogen.