Ida Gräfin von Hahn-Hahn
[1843]
Ein Lied von der Lorlei
Die Sonnenstrahlen blitzen
Im Scheiden auf den Rhein,
Und Knab' und Schifferin sitzen
Im schwanken Kahn allein.
Sie singet süße Lieder
Und spricht manch' Schmeichelwort,
Sieht dann in's Aug ihm wieder -
Er aber kehrt sich fort.
Denn drüben auf der Klippe
Da steht die Lorelei,
Von ihrer rosigen Lippe
Tönt Wundermelodei.
Um ihre Stirne hangen
Die Locken braun wie Gold,
Die Augen und die Wangen
Wie glühn, wie blühn sie hold.
Als woll' er sie einsaugen
So blickt der Knabe hin,
„O, schau nicht in die Augen!“
Fleht lang die Schifferin!
Da steigen mächtige Klänge
Aus tiefster Brust der Fey.
„O, horch' nicht auf die Sänge
Der falschen Lorelei.“ -
Der Knabe ruft: „Behende
Führ mich zur Klippe hin.“ -
„Das wär' ein traurig Ende“,
Versetzt die Schifferin.
„Willst Du mich nicht hinfahren,
Find ich den Weg allein,
Und schwimme durch den klaren,
Mir längst vertrauten Rhein.“ -
„Kannst Du nicht bei mir weilen?
Ich bin dir ja so gut,
Will Alles mit Dir theilen,
Was nie die Lorlei thut.“ -
Sie faßte seine Hände
Und sah ihn an so bang
Ob er zu ihr sich wende -
Die Lorlei sang und sang.
„Ich höre sie nur singen,
Seh' nur das Sonnenlicht
Aus ihren Augen dringen,
Dich - hör' und seh' ich nicht.“ -
Da führt sie schweigend, schnelle
Zur Klippe ihn heran,
Und kaum auf sichrer Stelle
Entschwingt er sich dem Kahn
Er klimmet auf zur Klippe,
Verletzt sich Hand und Fuß,
Wird ihm nur von der Lippe
Der Lorlei holder Gruß.
Sie singt so lockend droben,
Er ist ihr schon ganz nah,
Und endlich, endlich oben -
Weh' ihm! sie ist nicht da.
Da steht er einsam schauernd,
In Abends letztem Schein,
Und einsam fährt und trauernd
Die Schifferin auf dem Rhein.
Aus: August Lewald (Hg.): Dombausteine. Von einem Vereine deutscher Dichter und Künstler. Als Beitrag zum Ausbau des Kölner Domes. Karlsruhe: Artistisches Institut, 1843, S. 310 - 312.